2015-03-19

#Guest Contribution: Das große Sammeln

Wie werden Whistleblower in verschiedenen Ländern wahrgenommen? Führt Digitalisierung zu einem Überwachungskapitalismus? Sind Blogs und soziale Medien in autoritären Staaten Katalysator für demokratischen Wandel? Wie diskutiert Europa den Umgang mit Cyberkonflikten? Im Rahmen unseres Finding Europe Mottos erscheint zu diesen und anderen Fragen in Kooperation mit unserem Medienpartner euro|topics bis zur re:publica alle zwei Wochen eine Debattenschau mit Stimmen aus der Presse und dem europäischen Netz. Der zweite Beitrag beleuchtet die unterschiedlichen Auffassungen in Europa zum Thema Big Data.

Bin ich heute schon mehr als 10.000 Schritte zu Fuß gegangen? Und wann war ich eigentlich das letzte Mal bei der Krebsvorsorge? Diese Fragen werden nicht nur wir uns stellen. Denn erste Krankenversicherungen wollen solche Informationen über ihre Kunden sammeln. Europa debattiert über Kosten und Nutzen von Big Data.

Die Versicherungsgruppe Generali kündigte im November letzten Jahres an, als erster großer europäischer Krankenversicherer Daten zu Fitness, Ernährung und Lebensstil ihrer Kunden zu sammeln – und diese mit satten Rabatten dafür zu entschädigen. Dabei soll eine App helfen, die Vorsorgetermine dokumentiert und sportliche Aktivitäten misst. Andere Versicherer wollen nachziehen. Das ruft Datenschützer auf den Plan und auch die finnische Tageszeitung Helsingin Sanomat ist skeptisch: "Natürlich kann jeder machen, was er will. Zum Beispiel die Zahl seiner Bauchmuskelübungen, eine Excel-Tabelle über das Lauftraining und den Body-Mass-Index an die Versicherung schicken. ... So können zumindest jene, die bereitwillig ihre Daten übermitteln, Rabatte erhalten. Wer das nicht möchte, bekommt eben keine. ... Aber viel interessanter als die Einteilung der Menschen in Gesundheitsbewusste und Gesundheitsmuffel ist doch, was das Unternehmen alles mit den Daten anfangen kann."

Verzicht auf Privatsphäre?

Als Big Data wurde das Sammeln und die Analyse gigantischer Mengen von Datenmaterial bekannt. Daten, die wir im Alltag hinterlassen, in sozialen Netzwerken, beim Einkaufen, der Navigationsabfrage oder beim Telefonieren. Kritiker bemängeln vor allem, dass niemand genau weiß, welche Daten gesammelt werden und wer Zugriff darauf hat. Doch Big Data bietet ein enormes Potenzial, hält die belgische Wirtschaftszeitung De Tijd euphorisch dagegen: "In den USA werden schon jetzt Grippeepidemien lokalisiert, in dem man schaut, wie oft das Wort Grippe gegoogelt wird. Smartphones können vor Staus warnen, wenn sie registrieren, dass man jeden Tag zur selben Zeit dieselbe Strecke fährt. Erstmals wird 'soziale Physik' möglich. Und zwar nicht durch kurze Experimente mit wenigen Personen, sondern man kann das Verhalten Hunderttausender über einen langen Zeitraum verfolgen. Das eröffnet auch Möglichkeiten, Städte besser und intelligenter zu organisieren. Könnten wir für diesen Fortschritt nicht auf etwas Privatsphäre verzichten?"

Auch für Enrique Dans, Blogger und Professor für Informatik an der Madrider IE Business School, überwiegen die Vorteile von Big Data. Jedoch braucht es dafür erst einmal die Technik, die in der Lage ist, die Daten zu interpretieren: "Was machen wir mit der riesigen Datenmenge, die von Sensoren, etwa an einer Smartwatch, generiert wird? Wir sind jetzt schon übersättigt und analysieren vielleicht gerade mal ein Prozent. Die Lösung wäre, andere Maschinen auf die Interpretation anzusetzen. Lernende Maschinen sind die einzige Chance, Ordnung in die konstant anfallende Datenmenge zu bringen, dass sie halbwegs Sinn ergibt."

Big Data und Open Data kombinieren

Doch Big Data kann sein gesellschaftliches Potenzial nur entfalten, wenn eine Bedingung erfüllt ist, die nebenbei auch noch das Problem des fehlenden Datenschutzes lösen würde, meint der Analytiker Joel Gurin von der New York University im Guardian. Nämlich dann, wenn Regierungen ihre Datensammlungen als Open Data für alle frei zugänglich und nutzbar machen: "Paradoxerweise könnte gerade eine spezifische und kontrollierte Öffnung dieser sensiblen Daten diese sicherer machen. Wenn wir mehr wüssten, könnten wir mehr Kontrolle ausüben. Sowohl Big Data als auch Open Data können Unternehmen, Regierungen und Gesellschaften verändern. Eine Kombination der beiden ist ganz besonders wirksam. Big Data verleiht uns eine bis dato nicht gekannte Fähigkeit, die Welt, in der wir leben, zu verstehen, zu analysieren und letztlich zu verändern. Open Data stellt sicher, dass diese Macht geteilt wird und dass die Welt, die wir verändern, mit etwas Glück eine gerechtere und demokratischere wird."

Wie Erdöl für Dienstleistungen

Einen Versuch, der Kombination von Big Data mit Open Data macht Estland. Auf einem Onlineportal laden seit kurzem alle staatlichen Stellen sukzessive ihre Daten hoch, von den Arbeitslosenbehörden, über die Polizei bis hin zu Archiven. Schon vorher waren sie frei zugänglich, doch nun werden sie alle auf diesem Portal gebündelt. Der IT-Sachverständige des Wirtschaftsministeriums Uuno Vallner erkennt darin auf dem Onlineportal Delfi vor allem wirtschaftliche Vorteile: “Open Data ist wie Erdöl für die Dienstleistungen des Privat- und des öffentlichen Sektors. Unser Staat kann durch Open Data viel transparenter und geschmeidiger sein, die Unternehmen bekommen neue Möglichkeiten, um Anwendungen zu schaffen und Bürger bekommen besseren Service. Unternehmen können die Daten mit anderen kombinieren und daraus neue Dienstleistungen entwickeln. Und EU-weit würde eine größere Offenheit und leichte Zugänglichkeit der öffentlichen Daten einen wirtschaftlichen Gewinn von 40 Milliarden Euro jährlich schaffen.“

euro|topics

Für die internationale Online-Presseschau euro|topics verfolgen 26 Korrespondenten die wichtigsten Debatten in Europa und durchforsten dafür meinungsbildende Medien. Alle ausgewählten Stimmen stehen auf Deutsch, Englisch und Französisch zur Verfügung. Damit leistet das Angebot seit 2005 einen wichtigen Beitrag für eine europäische Öffentlichkeit. eurotopics verfügt über ein stetig wachsendes Archiv aus mehr als 30.000 Meinungsbeiträgen. Ein rund 500 Zeitungen, Onlineportale und Blogs umfassender Index erschließt Europas Medienlandschaft. Seit 2008 erstellt das Journalistennetzwerk n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die tägliche Presseschau.

Mehr unter http://www.eurotopics.net/.

Bildnachweis: Justin Grimes "data scrabble" Zappner (CC BY-SA 2.0)