re:health – ein Nachbericht
Auf der re:publica 2015 wurde an Tag drei Stage 10 mit dem abwechslungsreichen re:health-Programm bespielt. Von Google-Infokästen, mHealth, 3D-Druck in Katastrophengebieten oder Depression im Internet – der Themen-Track zog den ganzen Tag über ein breites Publikum an und sorgte für intensive Diskussionen, auch auf Twitter.
Bis auf den letzten Platz besetzt war das Panel "Die Logik von Google und der Anspruch an gute Gesundheitsinformationen". In den USA hat Google Anfang des Jahres ein neues Feature ausgerollt: Infokästen zu 400 wichtigen medizinischen Indikationen, auf der Basis des 2012 gestarteten Knowledge Graph zusammengestellt und von Medizinern auf Richtigkeit prüfen lassen. Die Infokästen werden oberhalb oder seitlich der ersten Suchergebnisse angezeigt. Timo Thranberend von der Bertelsmann Stiftung, Jens Redmer von Google und Klaus Koch vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) diskutierten darüber, ob dieses Feature auch in Deutschland kommen wird und was das für die Anbieter von Gesundheitsinformationen wie das IQWiG bedeutet. Ein Vergleich der Informationsangebote zeigte, dass die Google-Infokästen längst nicht so in die Tiefe wie www.gesundheitsinformation.de gehen. Bei allen Unterschieden im Ansatz: Der Dialog, etwa über Qualitätskriterien, soll fortgeführt werden.
[caption] Klaus Koch, Jens Redmer und Timo Thranberend – die Panelisten von "Die Logik von Google und der Anspruch an gute Gesundheitsinformation"; credit: Tobias Neisecke (CC BY-SA 2.0). [/caption]
Innovative Lösungen für einkommensschwache Regionen wurden im Panel der International Telecommunication Union (ITU) diskutiert. 'Business as usual' sei bei der weltweiten Bekämpfung chronischer Erkrankungen längst keine Option mehr, sagte Hani Eskandar, der ICT Applications Coordinator der ITU. Insbesondere mHealth könnte dabei helfen, Krankheiten wie Diabetes zu managen oder den Lebensstil zu ändern. Dabei ist die einfachste Lösung allerdings nicht immer die günstigste."SMS-basierte Services sind in vielen Regionen sehr kostspielig", berichtet James Odede, Co-Founder und Director des Innovationsspaces Lakehub in Kenia.
Auch wenn 3D-Drucker derzeit vor allem in Industrienationen gefragt sind, so könnte sich ihr wahrer Nutzen bald zunehmend mehr in Krisengebieten zeigen. "Unsere wichtigste Erkenntnis war, dass man mit 3D-Printern tatsächlich nützliche Dinge für ein Krankenhaus drucken kann", berichtete Andrew Lamb von Field Ready. Bei seinem Talk zeigte er einige spannende Beispiele, vom Nabelschnur-Clip bis hin zur Hand-Prothese, die im letzten Jahr viel dabei geholfen haben, die medizinische Versorgung in Haiti zu verbessern.
Die Morgensession am Donnerstag verlangte sowohl den Speakern als auch der Zuhörerschaft einiges ab, denn es ging um "Depressionen im Internet". Die Berichte von Tara Falsafi, Dominik Schott und Hagen Terschüren machten deutlich, dass Depression viele Gesichter hat. Oft sind gar nicht so sehr die negativen Gefühle belastend, sondern die Abwesenheit jedweder Empfindung. Ob ein transparenter Umgang mit der eigenen Erkrankung und der Austausch mit anderen Depressiven und Nichtdepressiven im Internet hilft oder zusätzlich belastet, hängt von der Person und ihren Online-Erfahrungen ab. Die Debatte in den sozialen Medien hat manchen erst die Erkenntnis gebracht, dass sie sich Hilfe organisieren sollten. Bloggen kann helfen, aber keine Therapie ersetzen . Und das schon deshalb, weil etliche Leser negativ auf die Texte von Depressiven reagieren, was diese wiederum zusätzlich belasten kann.
Der Psychiater Jan Kalbitzer wollte der durch die Wissenschaft bisher nicht beantworteten Frage "Macht das Internet psychisch krank?" intensiver nachgehen. Denn die Digitalisierung sei unter allen technischen Errungenschaften wahrscheinlich jene Neuerung, die mit am stärksten unsere Psyche verändern wird. Daher beschloss er mit einigen Kollegen, das Zentrum für Internet und Seelische Gesundheit (ZISG) an der Berliner Charité aufzubauen.
Die Folgen der zunehmenden Digitalisierung waren ebenso das Thema bei Shari Langemaks Session "The Dark Side of Healthcare Innovation". Die Ärztin und Medizinjournalistin stellte in ihrem Vortrag fünf Fragen, die die größten ethischen Herausforderungen der Medizin der nahen Zukunft reflektieren. Dabei forderte sie die Zuhörer auf, sich Gedanken über kontroverse Themen wie Datenschutz, Genmanipulation und steigende Krankheitskosten zu machen.
Der Künstler und Designpoet Marco van Beers setzte sich in seiner Session damit auseinander, was "being human" in einer technologisierten Welt bedeutet. Denn zunehmend verschmelzen Mensch und Technologie physisch miteinander. Marco ging es nicht darum, die Zukunft zu erklären. Vielmehr wollte er die Diskussion anstoßen und uns mögliche Szenarien aufzeigen. So sollte jeder individuell für sich entscheiden, was er davon wirklich möchte und was nicht.
[caption] Marco van Beers bei seinem Talk; credit: Andrea Kamphuis (CC BY-SA 2.0). [/caption]
Kai Sostmann, Kinderarzt und E-Learning Spezialist an der Charité, skizzierte in seiner Session die Zukunftsvision eines fiktiven Pärchens mit Kinderwunsch. Sie lernen sich über ein genetisches Dating-Portal 'kennen' und werden smarte Kondome nutzen, um Geschlechtskrankheiten auszuschließen. Das designte Wunsch-Baby kommt mit 3 Terabyte Genom-Daten zur Welt, weitere 2 Gigabyte pro Jahr kommen durch den mit Sensoren ausgestatteten Strampler und den smarten BH der Mutter hinzu.
Alexander Schachinger versteht sich als Berater, der dem deutschen Gesundheitswesen die digitale Welt erklärt. Seit 2009 führt er Online-Befragungen zum "Was machen Patienten, Angehörige und Kranke im Internet?" durch. In seinem Talk berichtete er von zwei Parallelwelten, dem klassischen Gesundheitssystem ("Wir machen mal eine Broschüre") und einem sich online informierenden und vernetzenden E-Patienten.
Nagina Javaid von NHS England und Anthony Zacharzewski von der Organisation Democratic Society stellten das Projekt NHS Citizen vor. NHS Citizen soll die Bürger befähigen, auf die Themen und die Arbeitsweise des NHS Einfluss zu nehmen. Nach anderthalb Jahren "aktiven Zuhörens" steht nun gerade erst das Online-Design, das öffentlich und transparent erarbeitet wurde. Allein das ist eine kleine Revolution. Doch damit die Teilhabe auf Dauer funktioniert, ist ein grundlegender Kulturwandel nötig.
[caption] Nagina Javaid stellt das Projekt NHS Citizen vor; credit: Andrea Kamphuis (CC BY-SA 2.0). [/caption]
Natalie Masche und Andrea Kamphuis stellten die Social-Media-Kampagne #screenonly vor, mit der das IQWiG 2014 einen Rückschritt in Sachen Datentransparenz zu verhindern versuchte. Die European Medicines Agency wollte den Zugriff Dritter auf die bei ihr eingereichten Studiendaten so restriktiv handhaben, dass Nutzenbewertungen auf dieser Basis unmöglich geworden wären. Die Kampagne hatte Erfolg, doch es bleibt offen, unter welchen Umständen Wissenschaftler zu Aktivisten werden dürfen, und wie weit sie Sachverhalte dabei vereinfachen dürfen.
In der letzten Session des Tages präsentierte Tobias Neisecke auf unterhaltsame und interaktive Art die Praktiken und Mehrwertangebote der kommerziellen Arztbewertungsportale. Er zeigte, wie man mit Premium-Accounts positive Bewertungen fördern kann und enttarnte die Gruppe der Schönheitschirurgen als Zielgruppe der kostenpflichtigen Leistungen von Bewertungsportalen.
Bildnachweis ganz oben: Tobias Neisecke (CC BY-SA 2.0)
Pressestimmen
“Köln Auf Der re:publica 15 - Andrea Kamphuis und Natalie Masche: Mit einfachen Mitteln viel bewegen!”
Kölner Stadtanzeiger (28.04.2015)
"Ich will, dass ihr meine Leiden kennt"
Die Welt (07.05.2015)
"re:publica-Vortragstipps: Wie gefährlich ist das Selbstvermessen?"
spiegel.de, (07.05.2015)
"Hört auf, Spielzeug zu drucken, ihr könnt mit 3D-Printern Leben retten!"
wired.de (05/2015)
"Mit der App zum Arzt"
Die Welt (17.05.2015)