2015-04-01

#Guest Contribution: Flucht ins Netz

Wie werden Whistleblower in verschiedenen Ländern wahrgenommen? Führt Digitalisierung zu einem Überwachungskapitalismus? Sind Blogs und soziale Medien in autoritären Staaten Katalysator für demokratischen Wandel? Wie diskutiert Europa den Umgang mit Cyberkonflikten? Im Rahmen unseres Finding Europe-Mottos erscheint zu diesen und anderen Fragen in Kooperation mit unserem Medienpartner euro|topics bis zur re:publica alle zwei Wochen eine Debattenschau mit Stimmen aus der Presse und dem europäischen Netz. Der dritte Beitrag beleuchtet die Unabhängigkeit des Online-Journalismus in Europa.

"Revolution will not be televised – it will be tweeted": Das Graffito, das infolge der Gezi-Proteste in den Straßen Istanbuls auftauchte, verweist auf eine Entwicklung in europäischen Ländern, in denen die Pressefreiheit in Gefahr ist: Kritik an den Regierungen verlagert sich zunehmend ins Netz, weil regierungsnahe Mogule TV-Kanäle und Zeitungen besitzen und diese als Machtinstrument nutzen. Können soziale Medien, Blogs und unabhängige Onlineportale für eine offene Debatte sorgen?

Kritik an der Sparpolitik, das ist für griechische Journalisten laut der International Federation for Human Rights ein vermintes Terrain. In ihrem im Dezember vorgelegten Bericht führt die Menschenrechtsorganisation aus, wie Athen immer autoritärer gegen öffentliche Kritik vorging und – verstärkt durch die Schließung des öffentlichen Rundfunks im Sommer 2013 – ein Klima erzeugte, in dem unabhängiger Journalismus kaum noch möglich war. Blogger Pitsirikos hatte bis 2010 eine satirische Sendung im Radiosender Skai und beschreibt, wie er es dort selbst erlebt hat: "Es gab keine Zensur, aber es gab Selbstzensur. Sobald das Mikro an war, haben die Journalisten andere Dinge gesagt als vorher. Ein sehr berühmter Kollege sagte zu mir: 'Hey Pitsirikos, erzähl Du doch von der Schande, die diese Politiker zu verantworten haben, denn ich kann es nicht sagen.' Die Meinungsfreiheit ist durch die Verfassung garantiert, aber man kann nicht frei aussprechen, was man denkt."

Online allein geht nicht

In Tschechien ist der schwerreiche Vizepremier Andrej Babiš im Frühjahr 2014 gleich selbst bei der renommierten konservativen Tageszeitung Lidové noviny eingestiegen. Damals verließen Redakteure aus Protest das Blatt und gründeten das Onlineportal Echo24. Zum ersten Geburtstag zieht Chefredakteur Dalibor Balšínek ein erstes Resümee und erklärt, warum alleinige Online-Berichterstattung schwierig ist: "Die User-Zahlen, die in die Millionen gehen, lesen sich für einen Laien großartig. Für Inserenten sind sie das nicht. Die Internet-Pest, wonach Qualitätsjournalismus umsonst zu sein hat, ist vernichtend. Um zu überleben, haben wir begonnen, zusätzlich ein kostenpflichtiges Wochenblatt herauszugeben, mittlerweile auch in Druckversion. Das ist für unsere Unabhängigkeit der einzige Weg. Das Wochenblatt ist organischer Bestandteil von Echo24, das eine würde ohne das andere nicht funktionieren. Das zweite Jahr wird für unsere Existenz entscheidend und ist abhängig von den Lesern, die zu schätzen wissen, dass wir den Weg in die Unsicherheit nicht gefürchtet und uns als erste dem Ausverkauf des Journalismus an Oligarchen widersetzt haben."

Soziale Medien als Sprungbrett

Türkische Medien gehören meist zu Mischkonzernen, die von öffentlichen Aufträgen abhängig sind und sind damit anfällig für eine Einmischung der Regierung. Druck führt auch hier zu Selbstzensur und deren volles Ausmaß zeigte sich im Sommer 2013, als türkische Medien nicht über die Proteste im Gezi-Park berichteten. Stattdessen explodierten die Zahl der türkischen Accounts auf Twitter und Facebook, wo die Infos über die Proteste verbreitet wurden. Daraufhin verlagerte sich kritische Berichterstattung immer weiter ins Netz, wie der Soziologe Erdem Yörük in der liberalen Internetzeitung Radikal analysiert: "Man kann das die Dialektik des Kampfes nennen. Als zweite Reaktion entwickelte sich der vom Mainstream unabhängige Internetjournalismus. Neue Portale, die finanzielle Vorteile haben, weil sie ausschließlich online publizieren und deren Inhalte schnell über die sozialen Medien verbreitet werden können, machten einen Riesenschritt hin zu alternativen Medien. Und dies alles mit der Beteiligung von Journalisten, die [wegen ihrer kritischen Haltung] bei ihren vorherigen Arbeitgebern gefeuert worden waren."

Allerdings führt kaum ein anderer Staat der Welt mehr Prozesse gegen die Nutzer von sozialen Netzwerken, kritisiert die linksliberale Tageszeitung Der Standard und sieht eine heuchlerische Kampagne dahinter: "Erdogan hat selbst mit wünschenswerter Klarheit das Ziel dieser Polizeistaatspraktiken offengelegt: Es geht um die 'Ausrottung' von Twitter und allen anderen sozialen Netzwerken im Internet. Denn was die türkische Regierung nicht kontrolliert, ist schädlich. Die Heuchelei ist beachtlich. Rufmordkampagnen gegen Journalisten und Diffamierungen von Bürgern, die sich kritisch äußern, sind das tägliche Brot twitternder AKP-Funktionäre und ihrer Trolle. Die Terrorarmee 'Islamischer Staat' muss sich dagegen in der sonst so sensiblen Türkei keine Sorgen um ihre Internetpropaganda machen."

Copy-Paste-Kultur

Auch in Bulgarien, wo die Menschen ebenfalls im Sommer 2013 auf die Straße gingen und sogar den Premier aus dem Amt jagten, erhielten die sozialen Medien einen Riesenschub. Doch die in der Türkei beobachtete zweite Reaktion blieb aus. Der bulgarische Onlinejournalismus spielt sich vor allem auf Portalen der großen Medienunternehmen ab, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen nicht viel Kritik an der Regierung zulassen. Und so zeichnet die Journalistin Bistra Welitschkowa im Onlineportal E-Vestnik mit einem persönlichen Einblick hinter die Kulissen ein düsteres Bild: "Geschrieben wird mit der linken und der rechten Maustaste. Kopieren, Einfügen und fertig ist die Nachricht. Online schreibt jeder von jedem ab und am Ende des Tages hat gewonnen, wer die meisten Nachrichten veröffentlicht hat. Es kommt nicht mehr auf Inhalte, Quellen und Autoren an, sondern nur noch auf die schiere Anzahl der Nachrichten auf der Seite. Und während einige Herausgeber sich freuen, dass sie damit ein gutes Geschäft machen, vergessen sie, dass auch sie Teil der Gesellschaft sind und dass sie mit ihren faulen Methoden nicht nur uns nach unten ziehen, sondern sich selbst gleich mit."

euro|topics

Für die internationale Online-Presseschau euro|topics verfolgen 26 Korrespondenten die wichtigsten Debatten in Europa und durchforsten dafür meinungsbildende Medien. Alle ausgewählten Stimmen stehen auf Deutsch, Englisch und Französisch zur Verfügung. Damit leistet das Angebot seit 2005 einen wichtigen Beitrag für eine europäische Öffentlichkeit. eurotopics verfügt über ein stetig wachsendes Archiv aus mehr als 30.000 Meinungsbeiträgen. Ein rund 500 Zeitungen, Onlineportale und Blogs umfassender Index erschließt Europas Medienlandschaft. Seit 2008 erstellt das Journalistennetzwerk n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die tägliche Presseschau.

Mehr unter http://www.eurotopics.net/.